Treibholz

Aphorismen, Sprüche, Sentenzen IV
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ISBN-13:
9783948229252
Veröffentl:
2021
Erscheinungsdatum:
06.04.2021
Seiten:
140
Autor:
Hans Norbert Janowski
Gewicht:
272 g
Format:
207x146x10 mm
Sprache:
Deutsch
Beschreibung:

VorwortDer Mensch ist aus krummem Holz gemacht, meinte ImmanuelKant, und setzte dem den aufrechten Gang entgegen. Kantkannte Krummholz gut von dem Treibholz her, das nach derSturmflut an die Strände der Ostsee geschwemmt wird. Auskrummem Holz, so sah es auch der Schöpfungsmythos der Germanensei der Mensch geschnitzt: Ask, der Mann, aus EschenholzEmbla, die Frau, aus der Ulme - besonders aus Schwemmholzdas man am Ufer fand. Ströme, Gezeiten schwemmen esmit dem Schmelzwasser oder der Flut an. Treibholz ist nach langerFahrt besonders hart und hat, wenn es trocknet, eine knorrigeeben krumme Gestalt.In der Hand fühlt es sich ganz anders an als der vom Wasser geschliffeneKiesel; nicht glatt und gerundet, sondern uneben undverquer. Holz zeigt Strukturen eines Eigenwuchses, die man auchbei der Bearbeitung und Glättung noch als Maserung oder Astgabelungerkennt.Wenn man Aphorismen liest, kommen gelegentlich solche Bilderund Erinnerungen in den Blick: eine literarische Form, die ihrenEigensinn schon in der Kürze und in der fragmentarischen Unvollkommenheiterkennen lässt. Es geht dabei um eine Unvollkommenheitdie sich gleichwohl den Anschein der Vollkommenheitzu geben weiß.Treibholz wird wegen seiner Härte und Struktur gern zum Schnitzenvon Skulpturen und Figuren verwendet. Dabei ist es freilichangebracht, auf den Eigenwuchs, die unregelmäßigen Linien undRinge des Holzes zu achten, um dem Stück nicht seine Seele aus10dem Leib zu schneiden. Das eigenwillige Wesen fordert bei derhölzernen wie bei der literarischen Materie seinen Tribut. Nichtjeder Schnitt und Schliff passt und sitzt - beim Überschleifen desAstes ebenso wenig wie bei dem Versuch, dem Eigensinn desAphorismus Eindeutigkeit abzupressen; er gewinnt Leben undFahrt erst im Spiel der Farben und Bedeutungen, als sprachlicherWechselbalg.Treibholz schwimmt, es treibt auf dem Wasser, bleibt an derOberfläche, wird angetrieben von der Strömung, legt sich aberauch quer, je nachdem, wie es gewachsen und versehrt ist. DieRichtung seiner Bewegung, seines Bruchs, wird von Kräften bestimmtdie in ihm und auf es einwirken. Als Splitter kann es aggressivsein und verletzen, als Bruchstück lässt es sich treiben, esspreizt sich, mit seiner abgeschliffenen Härte schießt es auch dahinwie ein Torpedo.Aber ich will die Analogien und Divergenzen nicht strapazieren.Aphorismen spielen an den Rändern der Bedeutung mit demWortsinn, dem Widerspruch, dem paradoxalen Schein; sie sperrensich bei allem Schliff gegen die Eindeutigkeit, die festlegt undwie der Buchstabe "tötet". Sinn und Aussage der Worte im Satzhängen von dem gewöhnlichen Gebrauch, von der Umgebungin der sie etwas aussagen, vom Blickwinkel, von Zeit und Ort undnicht zuletzt von ihrer Kernbedeutung ab. Gegenüber dem Bemühenum Eindeutigkeit reizt die Vieldeutigkeit und die poröseGrenze zu mehr Aufmerksamkeit, der schillernde Gebrauch oderder sperrige Eigensinn versprechen mehr Lebendigkeit undschärfen den Blick auch für das Abstruse im Normalen. Gelegentlichfesselt der plurale Sinn gerade dadurch, dass sich der Satz in11den "vierfachen Schriftsinn" des sensus literalis, allegoricus, moralisund anagogicus auffächert.Die Offenheit und Kürze dieser kleinen Form ergänzen derenSchwächen zu einem stärkeren Effekt, begrenzen aber auch dieReichweite ihrer Aussagekraft; so strahlt sie die selektive Krafteines Schlaglichtes aus, ihr fehlt aber das Charisma der sorgfältigenDifferenzierung.Das setzt die Deutungsphantasie frei, verschafft ihr Atemluft undfängt zugleich den Deutungsdrang auf in der Schwebe zwischenIronie, Widerspruch, einem skeptischen Freimut und einemScharfsinn, der sich ambiguitätsverliebt dem Doppelsinn banalerSelbstverständlichkeiten hingibt: "Der Holzweg führt dich mittenhinein." - Besonders der Gegensinn ist eine sprudelnde Quelledes Aphorismus: "Wie sollte man jemandem vertrauen, der ständigdie Wahrheit sagt?" Oder auch: "Achten Sie auf die, welchehinter Ihnen stehen!"Die Hamburger Ärztin und Holzbildhauerin Maren Neumann arbeitetmit Holz. Sie hat eine besondere Zuneigung zu Treib- undWurzelholz, zu dessen eigenwilligem Wuchs, dessen Härte undvon Wasser und Erde ,bearbeiteter' Form. Ihm gibt sie mit Beitelund Klüpfel sowie mit empathischer Phantasie Gestalt. Zudemzieht sie die dunkle Seele von Eibe und Ebenholz an. MarenNeumann gibt den Bildnissen Namen und Titel; sie schlägt damiteine Brücke zum Schriftsinn und zum literarischen Ausdruck, fürdessen Gestaltung durch Schärfung und Verknappung der Aphorismusden Mund spitzt und ihn sprachlich umspielt.12Eigensinn, artistische Kraft und Spieltrieb ringen in beiden Fällenmiteinander. So wird aus der Wurzel des Weinstocks eine zumrettenden Lorbeer hin tanzende Daphne, ein Stück Treibholz zurTodesallegorie: der ,Gast'. Die Kugel am Ende und Beginn dersteilen Bahn: Man kann darin den Kampf des Sisyphos gegen dieErdenschwere sehen. Oder: ,Noch' - zwischen ,noch Natur undnoch nicht Gestalt'. So klar diese Metamorphosen erscheinen, sooffen und einladend bleiben sie für das Spiel und die Arbeit derVorstellungskraft der Betrachtenden und Lesenden.Das krumme Holz - es hat seine Vorzüge: Es schwimmt obenleicht und hart, es zeigt den Eigenwuchs sowie die Ambivalenzender Natur und widersetzt sich willkürlicher, nicht anpassungsbereiterBearbeitung. Kurz: Es kann manches zur Aufklärung dessenbeitragen, was der aufrechte Gang zu verbergen weiß.Hans Norbert Janowski

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